Position zur Anonymität im Netz

Vor kurzem bekam ich eine Anfrage, wie meine Position zur Anonymität im Netz laute. Genau genommen war nicht meine, sondern die des CCC gefragt, aber gerade bei solchen Themen scheue ich mich, zu wissen vorzugeben, auf welchen Standpunkt sich die vielen tausend Mitglieder einigen können. Ich nehme bestenfalls an, dass viele Menschen im CCC eine ähnliche Sicht haben wie ich. Noch genauer genommen lautete die Frage: Wie der Club zur Privatsphäre steht und wie er es begründet, sei an vielen Stellen zu finden. Wie jedoch positioniert der Verein sich zur Anonymität im Netz und den vielfältigen Missbrauchsmöglichkeiten?

Generell bin ich kein Freund solcher Fragen, bei denen immer der unterschwellige Vorwurf mitschwingt, wir Datenschützer- und Bürgerrechtlerinnen seien schnell mit Erklärungen zur Hand, wenn es festzustellen gelte, was die Ermittlungsbehörden alles nicht dürfen, doch wenn es umgekehrt um Vorschläge ginge, wie eine vernünftige Verbrechensbekämpfung aussieht, käme von uns nichts. Meine Reflexantwort lautet: Weil der Stärkere nicht geschützt werden braucht. Die in unserer Verfassung verankerten Grundrechte sind sämtlich Abwehrrechte der hier lebenden Menschen gegen den Staat. Warum? Weil historisch gesehen Regierungen häufiger Gewalt gegen ihr Volk ausgeübt haben als umgekehrt. Wir müssen aufpassen, dass der Staatsapparat nicht zu mächtig wird. Ich sehe unsere Aufgabe nicht darin, zu verhindern, dass die Bürgerinnen im Staat zu viel Macht bekommen.

So einleuchtend dieses Argument zunächst klingen mag, es übersieht erstens, dass der Staat nicht ein unpersönliches Gebilde ist, sondern von genau den Leuten getragen wird, die er regiert. Zweitens finde ich es zu einfach, die im Internet stattfindenden Verbrechen zum Problem anderer Leute zu erklären. Zwar sehe ich mich nach wie vor nicht als eine Art digitale Hilfspolizei, aber ich finde es sinnvoll, mich immer wieder in die Rolle derer zu versetzen, die ich kritisiere. In meinen Vorträgen bringe ich gern den Satz, ich sei staatskritisch, nicht staatsfeindlich. Ich halte nichts davon, das gegenseitige Feindbild “langhaarige Anarchos” gegen “Schweinestaat” zu bedienen. Im Prinzip wollen wir alle das Gleiche: im Rahmen eines gemeinsam ausgehandelten Regelwerks unser Leben leben. Wahrscheinlich werden eine Polizistin und ich niemals zur gleichen Weltsicht gelangen. Das ist auch nicht schlimm, so lange wir beide uns gegenseitig respektieren und anerkennen, dass unsere Perspektiven zwar voneinander abweichen, aber beide auf sorgfältigen Überlegungen und Erfahrungen beruhen.

Warum ich darauf so herumreite? Weil ich überzeugt davon bin, dass so fragile Gebilde wie eine freiheitlich-demokratische Grundordnung nur funktionieren, wenn es ein gegenseitiges Grundvertrauen gibt. Dieses Vertrauen ist auf ein bedenkliches Maß geschrumpft, und es ist Zeit, es wieder zu vergrößern. Wir rauschen mit immer größerer Geschwindigkeit auf den Totalitarismus zu, und unser einziges Patentrezept besteht darin, uns immer mehr in unsere jeweilige Soziosphäre einzuigeln und alle außerhalb als mit allen Mitteln zu bekämpfende Feinde anzusehen. Selbst innerhalb der Soziosphären herrscht munteres Hauen und Stechen. Hatten sich in den späten Siebzigern die Grünen von der SPD getrennt, trennte sich nach der Wiedervereinigung die Linke von der SPD, um sich jetzt noch einmal zu spalten. Natürlich könnten sie gemeinsam an einer sozialeren, gerechteren Welt arbeiten, aber dazu müssten sie sich zusammenreißen, und das bringt keinen Spaß. In der IT-Security-Szene taucht alle paar Wochen ein neuer halbgarer Messenger oder ein weiteres nicht funktionierendes Videokonferenzsystem auf. Natürlich könnten sie gemeinsam an einem laienkompatibleren, stabileren Produkt arbeiten, aber dazu müssten sie sich zusammenrei0en, und das bringt keinen Spaß.

Wir haben keine Zeit für solches Kindergartentheater, weder in der Softwarebranche, noch in der Politik. Aus diesem Grund renne ich seit einiger Zeit herum und spreche mit Institutionen, die sich grundsolide auf dem Boden der Demokratie befinden, nur komplett außerhalb des Umfelds, das ich als linksgrüner Ökopaxe der Achtziger gewohnt bin, und was soll ich sagen: Ich empfinde es als Bereicherung, nicht im eigenen Saft zu schmoren und andere Sichtweisen kennenzulernen. Umgekehrt habe ich den Eindruck, dass mein ehrliches Interesse als solches erkannt und damit klar wird, dass meine teilweise sehr deutliche Haltung zu Datenschutz- und Privatsphärefragen ihre Gründe hat, über die nachzudenken sich lohnt. Mehr will ich gar nicht.

Aus diesem Grund habe ich nicht nur die Anfrage selbst ausführlicher als üblich beantwortet, sondern auch diese Einleitung dazu geschrieben. Weil die Gegenseite es mir wert ist.

“Nun sag, wie hast du’s mit der Anonymität?”

Im Grunde stütze ich mich auf die Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts zum Urteil über die geplante Volkszählung vom 15.12.1983. In diesem Urteil erkannte das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich direkt aus den Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes ableitet. Das Gericht argumentierte damals, dass ein Mensch erst dann in Würde und Freiheit leben kann, wenn er sich wenigstens zu bestimmten Anlässen unbeobachtet fühlen darf. Die heutige Durchdringung unseres Alltagslebens mit Geräten, die theoretisch jeden Moment unseres Lebens erfassen, speichern und auswerten können, war damals bestenfalls zu erahnen, doch bereits in den frühen Achtzigern waren sich Menschen der Gefahr bewusst, die entsteht, wenn irgendwo eine Akte von ihnen existiert, die genau festhält, wann sie mit wem wo wie lange worüber gesprochen haben. Wenn ich damit rechnen muss, dass jede meiner Äußerungen irgendwann einmal ausgegraben und gegen mich verwendet wird, gibt es Sätze, die ich mir lieber verkneife. Am besten sage ich gar nichts oder zumindest nur Unverfängliches. Wer weiß, welcher Zeitgeist und welche Regierung in 10 Jahren herrschen werden.

Das Bundesverfassungsgericht ist seit dem Jahr 1983 nicht groß von seiner Grundhaltung abgewichen – im Gegenteil. In seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung präzisierte es seine Auffassung mit Hinblick auf die anlasslose Erfassung von Metadaten. Im Onlinedurchsuchungsurteil legte es bis an die Grenze der Unerfüllbarkeit hohe Anforderungen an das Scannen von Festplatten, ließ allerdings die Erfassung von Gesprächsinhalten im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung zu. Bei der gerade laufenden Debatte zur Chatkontrolle kenne ich kaum eine Jurisitin, die das geplante Gesetzesvorhaben unbedenklich findet. Statt dessen herrscht nahezu einhellig die Auffassung, dass es mit den in Deutschland und Europa anerkannten Grund- und Menschenrechten nicht in Einklang gebracht werden kann.

Es gibt kein “Freiheit versus Sicherheit”

Natürlich stehen solche Abwägungen im Konflikt zu den Wünschen von Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden. Ich schreibe bewusst nicht vom Konflikt Freiheit versus Sicherheit, weil dadurch der in meinen Augen falsche Eindruck entstünde, das Eine ließe sich nur durch Ausschalten des Anderen erreichen. Ein Hochsicherheitsgefängnis in einem Unterdrückungsstaat dürfte der am wenigsten freie Ort sein, den wir uns vorstellen können. Ein sicherer Ort ist es meines Erachtens nicht. Deswegen halte ich es auch für eine irrige Annahme, wenn wir nur das Internet ausreichend überwachten und jede widerrechtliche Äußerung mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgten, werde es sicher. Ich vermute vielmehr, dass solche Maßnahmen vor allem solche treffen, die sich ohnehin an die Regeln halten und dass diejenigen, welche sie missachten, dazu auch weiterhin ausreichend Möglichkeiten haben werden. Die Antwort könnte natürlich lauten, dann müsse das Netz eben noch stärker kontrolliert werden, aber dann, behaupte ich, ist das Ergebnis kein Internet mehr, sondern eine Art Disneyland, in dem kein weggeworfenes Bonbonpapier länger als ein paar Sekunden herumfliegt, bevor es irgendwer einsammelt, bei dem aber auch alles, was Sie dort sehen, minutiös von der Parkleitung so geplant ist. Da stellt sich keiner einfach so mit einer Gitarre an die Ecke und singt was von den Beatles. Wo kämen wir hin, wenn hier einfach jeder so wie er Lust hat, kreativ ist?

Im Netz läuft einiges schief

Das heißt nicht, dass ich die Probleme im Netz nicht sehe. Ich bekomme genau wie alle anderen Menschen ständig Mails, in denen Paypal, DHL, die Deutsche Bank oder der Zoll mich auffordern, meine Kontodaten zu verraten, einen infizierten Dateianhang auszuführen oder eine dubiose Webseite anzusteuern. Wenn ich im Netz etwas kaufen will, muss ich genau aufpassen, um nicht mein Geld loszuwerden und keine Gegenleistung zu erhalten. Lese ich eine Nachricht, bin ich gut beraten, deren Quellen zu prüfen, herauszufinden, ob sie korrekt zitiert, ob die Übersetzung stimmt, ob die verwendeten Bilder manipuliert, vorher in einem anderen Kontext verwendet oder gar komplett von einem Computer generiert wurden. Bei Nutzung sozialer Medien bin ich in der glücklichen Situation, in erster Linie den Verstand einiger Mitmenschen anzuzweifeln und nichts Schlimmeres befürchten zu müssen. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es jedoch mehrere, die beleidigt, erniedrigt, mit Gewalt oder sogar mit dem Tod bedroht wurden. Als jemand, der das Usenet der Achtziger- und Neunzigerjahre erlebt hat, liegt meine Reizschwelle wahrscheinlich höher als bei denjenigen, die irgendwann nach der Jahrtausendwende ihre ersten Streifzüge im Netz unternahmen. Das ändert aber nichts daran, dass es strafrechtlich relevante Handlungen gibt, deren Opfer geschützt und deren Verursacherinnen zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Es ist aber nicht so, als stünden die Ermittlungsbehörden hilflos vor einem undurchdringlichen Dickicht digitalen Verbrechens. Es beginnt bereits auf technischer Ebene. Sobald Sie eine TCP-Sitzung aufbauen (was immer dann der Fall ist, wenn Sie nicht einfach Daten in eine Richtung schicken, sondern irgendeine Art von Antwort haben wollen und sei es die Bestätigung, dass die Daten angekommen sind), kennt die Gegenseite Ihre IP-Adresse. In der Regel reicht eine Anfrage beim Provider, um festzustellen, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt diese Adresse genutzt hat. Natürlich gibt es Möglichkeiten, hier zu tricksen, indem Sie sich beispielsweise im WLAN einer Gaststätte oder eines Bahnhofs anmelden. Wenn Ihnen das zu aufwendig ist, können Sie Tor nutzen (und dabei bestimmte Vorsichtsregeln beherzigen, weil Ihnen Tor sonst so viel Schutz bietet wie ein Sicherheitsgurt vor Ertrinken). Die Meisten sind aber unbekümmert unterwegs und entsprechend leicht identifizierbar. Schwierigkeiten kann es allenfalls geben, wenn der Serverbetreiber die Logs über den fraglichen Zeitpunkt schon gelöscht hat oder der Internetanbieter in einem Land sitzt, das nicht mit deutschen Behörden kooperiert. Insgesamt jedoch stimme ich dem in der Öffentlichkeit gern vermittelten Bild nicht zu, im Internet herrsche völlige Anonymität und die Ermittlungsbehörden könnten nur schulterzuckend dem Treiben zuschauen.

Staatliche Eingriffsbefugnisse

Die TKÜV ermöglicht den Einbruch auf Laptops und Smartphones zum Zweck des Mitschneidens von Chats, Mails, Videokonferenzen, Telefonaten und Forendiskussionen. Weiterhin bietet das NetzDG Möglichkeiten zum Sperren bedenklicher Äußerungen. Zwar ist es schwer, die Anonymität des Tor-Netzes auf Protokollebene zu brechen, da aber oft physische Güter ausgetauscht, Zahlungen oder gar Telefonate getätigt werden, gibt es mehrere Möglichkeiten, auch dort Ermittlungserfolge zu erzielen. Verschlüsselte Chats werden in ihrer Sicherheit gern überschätzt. Erstens gibt es Möglichkeiten, in verschlüsselte Kommunikationen einzubrechen (wenn die überwachten Personen nicht aufpassen), zweitens schützt Verschlüsselung nur so lange, wie eine zur Vernehmung oder Verhör geladene Person nicht kooperationsbereit ist. War die Person unvorsichtig, bedarf es nicht einmal ihrer Kooperation. Es reicht ihr Fingerabdruck, um ihr Telefon zu entsperren. Rechtliche und technische Möglichkeiten haben wir meiner Einschätzung nach. Woran es mangelt, sind ausreichend ausgestattete und gut ausgebildete Ermittlungsbehörden.

Nicht die Anonymität ist das Problem, sondern die Grenzziehung

Meinem Eindruck zufolge haben wir gerade in den letzten Jahren weniger das Problem, verleumderische oder aufhetzende Inhalte nicht einer Person zuordnen zu können. Oftmals sind sie sogar stolz auf ihre Äußerungen und haben keine Schwierigkeiten damit, unter ihrem Klarnamen zu schreiben. Wenn aber eine Politikerin wie Renate Künast versucht, gegen sie geäußerte Vergewaltigungsaufrufe rechtlich zu verfolgen und in erster Instanz vom Gericht zu hören bekommt, sowas müsse sich sich als Person des öffentlichen Lebens gefallen lassen, liegt nicht bei zu viel Anonymität etwas im Argen, sondern bei einem in meinen Augen fragwürdigen Freiheitsverständnis in der Rechtsprechung. Bevor das hier Geschriebene sich zu sehr nach Richterschelte anhört: Die Grenzziehung, was noch erlaubt ist und was nicht, fällt nicht immer leicht. “Gas geben” plakatierte die NPD. Alle wissen genau, was gemeint ist. Trotzdem erlaubte ein Gericht die Aktion. “Hier könnte ein Nazi hängen” plakatiert “die Partei”. Ist das noch Satire? “Hängt die Grünen” plakatiert der “dritte Weg” und wird vom Gericht verurteilt. Egal, wo genau ich die Trennlinie ziehe, es wird immer jemanden geben, der exakt auf ihr entlangbalanciert und im Zweifelsfall argumentiert, ich solle mich wegen eines winzigen Übertritts nicht aufregen.

Die uneingelösten Verheißungen des Internet

Unabhängig davon stimme ich Ihnen zu: Wir haben ein Problem. Das Internet, vor 40 Jahren angetreten als ein Ort des weltweiten Gedankenaustauschs, hat seine Verheißungen nicht eingelöst. Zwar kommunizieren wir weltweit, es geht blitzschnell und kostet praktisch nichts, aber statt gemeinsam eine bessere Welt zu schaffen, schreien wir uns die meiste Zeit an. Differenzierte Meinungen gibt es kaum noch. Statt dessen zählt, wer noch radikaler, noch wuchtiger, noch theatralischer als die Anderen formuliert. Egal, ob wir uns über Coronamaßnahmen, den Ukraine- oder den Palästinakrieg, das Gendern oder die Klimapolitik streiten – wer es wagt, auch nur einen Deut von einer Extremposition abzuweichen und die Gegenseite zu verstehen versucht, wird sofort mangelnder Linientreue verdächtigt und ausgestoßen. Begierig durchstreifen wir das Netz, immer auf der Suche nach vermeintlichen Fehltritten, die wir dann fotografieren, rot umranden und mit schnappatmenden Kommentaren versehen verbreiten: “Seht her, ein widerlicher Sünder! Lasset ihn brennigen! Und danket mir, die ich tapfer den Missetäter aus seinem Loch ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt habe!”

Die Unsinnsfloskel vom “rechtsfreien Raum”, den es niemals gab

“Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein”, ist eine Forderung so alt wie das Internet selbst, und alle nicken beifällig, wenn sie fällt. Das von ihr implizierte Bild ist allerdings verzerrt. Seit ich in den frühen Neunzigern meine ersten Schritte ins Netz unternahm, mussten wir aufpassen, keine Bilder von Disney-Zeichentrickfiguren auf unseren Webseiten zu haben. Wir mussten darauf achten, nicht auf die falschen Webseiten zu verlinken, nicht das falsche Dateiformat für Bilder zu verwenden. Kommt Ihnen das bekannt vor? Bis zum heutigen Tag riskieren Sie völlig aus der Luft gegriffene Abmahngebühren, wenn Sie Ihr Impressum falsch gestaltet haben. Selbst das simple Foto einer Bockwurst auf einem Porzellanteller, das sie ob seiner kompletten Banalität irgendwoher kopiert haben, kann Sie hunderte Euro kosten. Bis zum heutigen Tag werden Menschen abgemahnt, weil sie angeblich in irgendeiner Tauschbörse illegale Kopien eines Musikstücks oder eines Films angeboten haben sollen. Obwohl die Störerhaftung vorläufig nicht mehr im Gesetz steht, versuchen Kanzleien weiterhin, die Betreiberinnen offener WLANs für Urheberrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen. Sie begründen es inzwischen anders, aber im Ergebnis bleibt es gleich: Wenn Sie unkontrolliert und unprotokolliert Ihren Internetanschluss für Andere freigeben, setzen Sie sich Haftungsrisiken aus. Erinnern Sie sich noch an die Panik im Frühjahr des Jahres 2018, als zahlreiche, zum Teil sehr große Webseiten vorübergehend den Betrieb aus Sorge vor DSGVO-Abmahnungen einstellten? Die Sorge war unbegründet, aber allein der Umstand, dass selbst juristisch Versierte die Gefahr einer Prozesslawine sahen, wirft bei mir die Frage auf: Sieht so ein Netz aus, in dem alle unter dem Deckmantel der Anonymität unbehelligt jedes beliebige Verbrechen begehen können?

Die enttäuschte Verheißung von der Macht der Machtlosen

Wir hatten die Hoffnung, das Internet könne uns befreien. Während des Arabischen Frühlings gelangten Bilder von Freiheitsdemonstrationen an die Öffentlichkeit – trotz aller Bemühungen der Regierungen, ihr Bekanntwerden zu unterdrücken. Whistleblowingplattformen wie Wikileaks lehrten auch in westlichen Demokratien das Fürchten. Egal, welche Schurkerei ihr euch leistet, lautete die Botschaft, es gibt immer irgendwen, der auspackt, und wir helfen dabei.

Von diesen Hoffnungen sind wir inzwischen weit entfernt. Spätestens sei der Verhaftung von Reality Winner muss uns klar sein, dass Whistleblowerinnen nicht allein dadurch geschützt werden, dass sie die Möglichkeit haben, ihre Daten irgendwo anonym abzugeben. Operation Security geht viel weiter, und eine verschleierte IP-Adresse allein stellt nur in sehr scharf abgegrenzten Fällen ein Hindernis bei der Identifikation dar. Browser Fingerprinting hat inzwischen eine Qualität, dass wir schon lange keine IP-Adressen oder Cookies mehr brauchen, um eine Person wenn schon nicht eindeutig, so doch mit hoher Treffsicherheit wiedererkennen zu können. Das liefert mir nicht zwangsläufig deren Anschrift, aber der Datensatz kann sich dennoch sehen lassen.

Mächtige Werkzeuge in falschen Händen

Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Insgesamt ist es mit der Freiheit nicht mehr allzu weit her. Eineinhalb Jahrzehnte lang haben wir Mechanismen geschaffen, mit denen sich auf Regierungsgeheiß nahezu jede beliebige Information sperren lässt. Der Grund, warum dies bislang nur in sehr wenigen Ausnahmefällen geschieht, liegt darin, dass wir bei aller Kritik immer noch Leute mit einem gewissen Mindestethos in politisch sensible Ämter wählen. Spätestens seit Donald Trump sollten wir uns aber keinen Illusionen hingeben: Um eine Demokratie zu kippen, bedarf es genau einer Wahl und dem Fehlen jeglicher Skrupel seitens des Gewählten. Die entsprechenden Kandidatinnen haben wir seit einiger Zeit auch bei uns am Start.

In der Frühzeit des Internet freuten wir uns über das Verschwinden der Grenze zwischen Senderinnen und Empfängerinnen von Nachrichten. Je mehr Sichtweisen zu einem Thema wir kennenlernen, hofften wir, desto besser können wir uns ein eigenes Bild verschaffen. Wie sich herausstellte, funktioniert dieser Ansatz nur, wenn das Gros der Leute wenigstens versucht, über die Wahrheit zu berichten. Inzwischen ist der Anteil an Leuten, die uns einfach nur noch dreist ins Gesicht lügen, so groß, dass wir zunehmend die Fähigkeit verlieren, wahre von falschen Meldungen zu trennen. Um noch einmal Trump zu bemühen: Sein Schaden für die Demokratie bestand vor allem darin, mehr kontrafaktischen Blödsinn von sich zu geben als je ein bekannter Politiker zuvor. Bis dahin waren wir gewöhnt, dass jemand die Wahrheit verzerrt darstellt, bestimmte Aspekte überzeichnet und andere verschweigt. Auch die eine oder andere Lüge mag vorgekommen sein, aber wir konnten immer annehmen, dass aus einem bestimmten Winkel betrachtet das Gesagte einen gewissen Realitätsbezug besaß. Dass eine Rede vom ersten bis zum letzten Wort komplett herbeiphantasiert war, gab es bis dahin nicht, zumindest nicht bei Politikern vom Kaliber eines Staatsoberhaupts. Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt. Wir haben aufgehört, selbst seriösen Nachrichtenquellen zu vertrauen und sind teilweise sogar stolz auf unsere neuentdeckte vermeintilch kritische Grundhaltung. Wenn jemand einen Eimer Wasser hinstellt und verkündet, Wasser sei nass, warten wir ab, dass irgendein Dorftrottel das Gegenteil behauptet und laden ihn in eine Sonntagabendschwafelshow ein, damit er im Dienste der Ausgewogenheit darüber schwadronieren kann, Nässe sei nur eine Lüge der Systemmedien, und da in einer Demokratie die Wahrheit im Kompromiss liegt, einigen wir uns am Ende darauf, dass Coca Cola uns künftig halbleere Flaschen zum Preis einer vollen verkaufen darf. Alles Andere wäre Extremismus, und den will ja keiner.

Das verlorengegangene Vertrauen ins Netz

Das Vertrauen ins Internet ist kaum noch vorhanden. Bei jeder Mail muss ich nachsehen, ob sie mir nicht Schadsoftware unterjubeln, mich auf eine Phishingsite locken oder mich auf irgendeine andere Art um mein Geld betrügen möchte. Wenn ich im Internet etwas kaufen möchte, habe ich als Laie kaum eine Möglichkeit, herauszufinden, ob ein Webshop tatsächlich mir ein attraktives Angebot unterbreiten oder mich einfach nur über den Tisch ziehen möchte. Selbst Ebay und Amazon bieten nur eingeschränkten Schutz. Ich habe Erfahrungen aus erster Hand, in denen Betrüger mit windigen Geschichten sowie einer Mischung aus Überredungskunst und Drohgebärden versuchten, Gebrauchtwagen zu ergaunern. An Stellen wie diesen gebe ich Ihnen recht: Solche Leute strafrechtlich zu verfolgen, ist zumindest nicht ganz einfach. Auch die Anrufe vom angeblichen Microsoft-Support, der Sie auf schwere Sicherheitsmängel hinweist und schnelle Hilfe anbietet, wenn Sie kurz den Teamviewer (ein an sich grandios gutes Programm, das nur oft in missbräuchlichen Zusammenhängen eingesetzt wird) herunterladen und den “Support” auf Ihrem System herumwurschteln lassen, lassen sich nur schwer zurückverfolgen. Auch hier gilt jedoch: Die Rückverfolgung ist möglich, nur hat das Land, in dem die Kriminellen sitzen, kein Interesse an einer Strafverfolgung.

Fazit: Anonymität ist nicht das eigentliche Problem

Kurz: Anonymität kann im Internet durchaus ein Problem sein, wird aber in meinen Augen überschätzt. Das Internet ist an vielen Stellen und in einem Maße kaputt, dass ich eine Reparatur für kaum noch möglich halte. Beide Extrema – Anarchie und Disneyland – haben ihren Charme und gleichzeitig so schwere Nachteile, dass ich nicht sagen kann, was mir weniger lieb ist. Im Moment sind wir irgendwo dazwischen, und offenkundig sind weder Sie noch ich besonders glücklich damit.

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